Lübeck 1942
Heiner Ross
Film und Audio-Präsentation 
Heiner Ross
Heiner Ross präsentierte Filme über die Zerstörung von Lübeck.  Er stellte die Ansprache von Thomas Mann gegenüber, die er anlässlich der Zerstörung seiner Heimatstadt im Radio hielt. Auch Ross ist gebürtiger Lübecker.
 
Es muss Thomas Mann schwer gefallen sein, ans Mikrofon zu treten. Nur wenige Tage zuvor war seine Heimat Lübeck, seine „Vaterstadt“, wie der hanseatisch-bürgerliche Schriftsteller und Träger des Literaturnobelpreises 1929 sagte, einem britischen Luftangriff zum Opfer gefallen. Was sagt man in einem solchen Moment, aus dem Exil, in das ihn die Führung des Dritten Reiches getrieben hatte?
Anfang April 1942 sprach Mann im Radio Department des US-Senders NBC in Los Angeles eine kurze Ansprache auf Schallplatte. Die Aufnahme wurde nach New York geflogen, von dort per Unterseekabel an die BBC nach London überspielt und dann auf Langwelle in ganz Europa ausgestrahlt. Sogar mit den einfachen Volksempfängern konnte man die mehrfach wiederholte Sendung hören, auch wenn es in Deutschland streng verboten war.
Was also sagt man in einem solchen Moment? Thomas Mann begann nicht mit Lübeck, sondern mit einer britischen Stadt. Seltsamerweise lautete sein erster Satz: „Zum ersten Mal jährt sich der Tag der Zerstörung von Coventry durch Görings Flieger.“
 
Seltsamerweise, denn zu dieser Zeit lag der große Angriff auf die mittelenglische Industriestadt keineswegs ein Jahr zurück, sondern fast anderthalb: In der Nacht vom 14. auf den 15. November 1940 hatten insgesamt 515 deutsche Flugzeuge Coventrys Innenstadt praktisch eingeebnet und 568 Menschen getötet.
 
Mann beschrieb diese Bombenattacke durchaus treffend als eine „der schauderhaftesten Leistungen, mit denen Hitler-Deutschland die Welt belehrte, was der totale Krieg ist und wie man sich in ihm aufführt“. Dann blickte er zurück auf die deutschen Bombardements im Spanischen Bürgerkrieg, während des Feldzuges gegen Polen 1939 und auf Rotterdam 1940.
 
Immer noch nicht kam Thomas Mann zu seinem eigentlichen Thema, das ihn zu der Sondersendung bewegt hatte: dem Untergang des alten Lübecks. Vielmehr redete er seinen Zuhörern im Dritten Reichs zuerst noch ins Gewissen: „Hat Deutschland geglaubt, es werde für die Untaten, die sein Vorsprung in der Barbarei ihm gestattete, niemals zu zahlen haben?“ Die rhetorische Frage beantwortete Mann umgehend: „Es hat kaum zu zahlen begonnen.“ Auch was britische Bomber schon angerichtet hatten, sei „nur ein Anfang“.
 
Fast die Hälfte seiner Rede war vorüber, als Mann endlich auf den Angriff der Royal Air Force in der Nacht zu Palmsonntag zu sprechen kam. „Beim jüngsten britischen Raid über Hitlerland hat das alte Lübeck zu leiden gehabt. Das geht mich an, es ist meine Vaterstadt.“
 
Gestützt auf die in britischen und US-Zeitungen veröffentlichten Berichte sagte der Exilant weiter: „Die Angriffe galten dem Hafen von Travemünde, den kriegsindustriellen Anlagen dort, aber es hat Brände gegeben in der Stadt.“ Das war, freundlich ausgedrückt, grob falsch.
 
Thomas Mann wusste es so kurz nach dem Angriff und vom fernen Kalifornien aus sicher nicht besser. Aber in Wirklichkeit waren weder Hafen- noch Industrieanlagen das Ziel gewesen, sondern die dicht bebaute mittelalterliche Altstadt. Nur hier konnten die Brandsätze, die mehr als die Hälfte der Bombentonnage der 234 eingesetzten Flugzeuge ausmachten, voll wirken.
 
Der Schriftsteller fuhr fort: „Und lieb ist es mir nicht zu denken, dass die Marienkirche, das herrliche Renaissance-Rathaus oder das Haus der Schiffergesellschaft sollten Schaden gelitten haben.“ Umgehend jedoch kehrte Mann zurück zum Auftakt seiner Rede: „Aber ich denke an Coventry und habe nichts einzuwenden. Gegen die Lehre, dass alles bezahlt werden muss.“
 
Vier Tage später diktierte Propagandaminister Joseph Goebbels seinem Sekretär wütend: „So hält beispielsweise Thomas Mann wieder eine Rede im englischen Rundfunk, die das wirrste und ungereimteste Zeug enthält, das man sich überhaupt nur vorstellen kann.“ Er schimpfte den Schriftsteller eine „angefaulte Intellektgröße der deutschen Republik“.
 
Getroffen hatten ihn Manns Ansprachen aber doch – einige Wochen später nannte er den Einsatz des Schriftstellers für die BBC „nur erfreulich“. In einer charakteristischen Volte behauptete er: „Die Thomas und Heinrich Mann können als englische Propagandisten nur für uns wirken.“ Und im Juni 1942 hielt er fest, von „Typen wie den beiden Gebrüdern Mann“ gehe keine Gefahr aus.
 
Richtig daran war, dass keine Ansprache aus Kalifornien das innere Gefüge des Dritten Reiches erschüttern konnte. Und dennoch waren Manns Reden an die deutschen Hörer wichtig. Sie dokumentierten, dass sehr viele, sicher die deutliche Mehrheit der Deutschen, das NS-Regime unterstützten – als Soldaten der Wehrmacht oder als anpassungsfähige Untertanen an der Heimatfront.
 
Paradoxerweise waren es gerade die Luftangriffe auf deutsche Städte, die in den folgenden drei Jahren das Dritte Reich stabilisierten. Thomas Manns zutreffende Ankündigung, dass „alles bezahlt werden muss“, machte ihn in den ersten Nachkriegsjahren zum Hassobjekt vieler Deutscher.
 
Doch es war eigentlich Selbsthass jener Generationen, die im Innersten um die Schuld wussten, die sie selbst trugen, im oft ganz Kleinen wie mitunter im Großen. Erst die nächste Generation der Kriegskinder, die wirklich ausschließlich unschuldige Leidtragende der Bombardements auf deutsche Städte waren, konnte die Bedeutung von Thomas Manns Ansprachen an die „deutschen Hörer“ ermessen.
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